Veit Oos, Vorstand des Industrie-Pensions-Verein e. V., sprach mit Professor Russwurm, Präsident des Bundesverbandes der Deutschen Industrie.
Fragen an den Präsidenten des Bundesverbandes der Deutschen Industrie von IPV-Vorstand Veit Oos:
Schon vor Corona war die Situation angesichts des strukturellen Wandels und weltweit steigenden Protektionismus schwierig. Die Corona-Pandemie hat nun zur schwersten Rezession seit Bestehen der Bundesrepublik Deutschland geführt. Ich werde meine ganze Kraft als BDI-Präsident dafür einsetzen, dass die deutsche Industrie die Krise möglichst rasch überwindet und ihre weltweite Spitzenstellung stärkt. Drei Stichworte sind mir besonders wichtig: Erstens, wir müssen Innovation als riesengroße Chance begreifen, unsere Zukunft zu gestalten. Zweitens setze ich auf Europa als Errungenschaft, deren Wesenskern gemeinsame Werte sind. Diese muss Deutschland zusammen mit seinen Partnern verteidigen und als Erfolgsmodell exportieren. Und drittens ist der Standort Deutschland und dessen Wettbewerbsfähigkeit der Schlüssel, unseren Erfolg zu sichern und im internationalen Vergleich Wachstum, Wohlstand und individuelle Aufstiegschancen zu stärken.
Ohne Strategie gibt es keinen Erfolg. Die Politik muss aufpassen, dass das aktuelle Krisenmanagement und der anstehende Wahlkampf den Blick auf die Zukunftsfähigkeit unseres Standorts nicht verstellen. Deutschland braucht einen massiven Investitionsschub und eine Steuerreform für Unternehmen. Es kommt genau auf diese strategische Voraussicht an. Deutschland muss rechtzeitig umschalten vom Krisen- in den Zukunftsmodus. Es geht darum, die Weichen für mehr globale Wettbewerbsfähigkeit zu stellen.
Die von der Bundesregierung bereitgestellten Corona-Hilfen haben die Lage erheblich entschärft. Keiner macht Bund und Ländern einen Vorwurf, dass das Krisenmanagement anfangs nicht reibungslos verlief. Aber das Ausprobieren von Maßnahmen muss ein Ende haben. Wirtschaft und Gesellschaft brauchen einen Werkzeugkasten evidenzbasierter Maßnahmen, klare Regeln, wann und wie diese Vorgaben anzuwenden sind, um mehr Berechenbarkeit und so viel Planungssicherheit wie möglich zu garantieren.
Die wirtschaftliche Lage bleibt schwierig, das Infektionsgeschehen in Europa lässt sich schwer abschätzen. Jede Prognose zu einer Rückkehr zum Vorkrisenniveau ist an Bedingungen geknüpft und daher sehr fragil. Eines ist jedoch sicher: Wir können aus dieser Krise herauswachsen. Aber davon auszugehen, dass sich an zehn Jahre Aufschwung bis zum Ausbruch der Pandemie wie selbstverständlich weitere zehn Jahre anschließen, wäre naiv. Die Politik muss Wachstum aktiv fördern, damit sich die historischen Schulden abtragen und notwendige Investitionen an unserem Standort tätigen lassen.
Absolut, das Virus hat Deutschlands digitalen Nachholbedarf gnadenlos aufgedeckt. Es ist mir unerklärlich, dass Gesundheitsämter im 21. Jahrhundert Corona-Daten noch per Fax weitergeben – und die Weitergabe gescannter Papierdokumente als PDF ist nicht viel besser. Deutschland war über viele Jahre eines der Länder mit der kritischsten Haltung der Bürger gegenüber der Digitalisierung. Nun zeigen jüngste Umfragen jedoch, dass die Deutschen mit dem digitalen Innovationstempo immer unzufriedener sind. Spätestens dieser Wandel in der gesellschaftlichen Einstellung muss Antrieb sein, mit mehr Mut Strukturen in der Verwaltung aufzubrechen und das Gesamtsystem neu zu denken. Deutschland braucht mehr Mut und Tempo.
Ich bin froh, dass beide Parteien eine Einigung erzielen konnten. Trotzdem: Die unmittelbar vom Brexit betroffenen Unternehmen sind aktuell gezwungen, in einem Atemzug zwei Krisen zu meistern. Für die meisten Betriebe bedeutet das Abkommen zusätzliche Bürokratie und weitreichende Beschränkungen im grenzüberschreitenden Warenverkehr. Für die Wirtschaft ist es daher essenziell, dass die EU und das Vereinigte Königreich schnellstmöglich wieder zu einem konstruktiven Miteinander zurückkehren.
Unsere Unternehmen erleben derzeit trotz Abkommens erhebliche Engpässe im Warentransport von und nach Großbritannien. Diese Störungen treffen viele Betriebe heftig – und das, obwohl sich die Unternehmen im vergangenen Jahr gut auf die Handelsbarrieren vorbereitet hatten. Wir rechnen damit, dass die Engpässe mindestens bis zur Jahreshälfte andauern. Aktuell ist der Handel aufgrund von Corona geschrumpft. Sobald das Handelsvolumen wieder zunimmt, steht uns ein massiver Stresstest bevor.
Handelskonflikte und nationale Alleingänge haben die beiden Partner entfremdet. Zum Glück spricht vieles dafür, dass das transatlantische Verhältnis unter Präsident Biden wiederbelebt wird und sich die Handelskonflikte entschärfen lassen. Biden hat der Weltgemeinschaft unmissverständlich zugerufen: „America is back.“ Die USA sind an Bord, um globale Probleme künftig wieder gemeinsam zu lösen. Tag für Tag handeln EU- und US-Unternehmen Waren im Wert von rund 1,7 Milliarden Euro. Im Klimaschutz und in der Digitalisierung warten für Unternehmen auf beiden Seiten des Atlantiks enorme Herausforderungen. Als überzeugter Transatlantiker setze ich auf einen Neustart auf Augenhöhe. Ich bin zuversichtlich, dass der neue US-Präsident das riesige Potenzial, das im transatlantischen Markt steckt, ernst nimmt und Europa wieder als Verbündeten behandelt.
Weitere Öffnungen im transatlantischen Markt stehen hoch auf der Agenda. Aber wir dürfen uns nichts vormachen, in der neuen Regierung in Washington sitzen nicht nur leidenschaftliche Freihändler. Der Slogan „Buy American“ stammt schließlich von den Demokraten. Auch Biden wird diesem Kurs treu bleiben und die heimische Wirtschaft zu schützen versuchen. Eine Neuauflage eines umfassenden Abkommens bleibt unrealistisch. Entscheidend ist zunächst, dass EU und USA ihre Handelskonflikte lösen. Insgesamt gilt: Die USA, China und Europa sowieso haben ein großes Interesse am Weltmarkt, weil alle von seinem Funktionieren profitieren.
Mehr Lust auf Zukunft, das wünsche ich mir. Die Große Koalition blieb trotz großer Gestaltungsspielräume und klarer politischer Mehrheiten unter ihren Möglichkeiten. Bereits vor der Pandemie war keine Aufbruchstimmung erkennbar – und das war nicht gut für unseren Standort. Corona hat den Strukturwandel der deutschen Industrie verschärft. Die Infrastruktur- und Investitionslücke ist weit aufgerissen. Jährlich fehlen 20 Milliarden Euro öffentlicher Investitionen. Auch für private Investitionen sollte die Politik mehr tun. Eine wichtige Aufgabe ist die Unternehmensteuerreform: Die Steuerlast für deutsche Unternehmen liegt mit mehr als 31 Prozent weit über dem EU-Durchschnitt von 22 Prozent. Wettbewerbsfähige Unternehmensteuern sind der Schlüssel für mehr Wirtschaftswachstum. Die Industrie wird weiter darauf drängen, den Industriestandort Deutschland zu stärken, um hierzulande dauerhaft Wohlstand und Beschäftigung zu sichern.
Ein höheres Renteneintrittsalter ist sicherlich kein Thema, mit dem Parteien beim Wähler punkten können. Dennoch muss klar sein: Die arbeitende Bevölkerung kann nicht immer mehr Rentner ernähren. So ehrlich müssen wir schon sein. In den kommenden Jahren erreicht die „Babyboomer“- Generation das Rentenalter. Im vergangenen Jahr ist die Zahl der Erwerbstätigen nach 14 Jahren zum ersten Mal gesunken. Der Druck auf unsere Sozialsicherungssysteme wird aufgrund des demografischen Wandels immer stärker. Hinzu kommt eine steigende Lebenserwartung. Sich einzureden, wer über 60 ist und noch arbeitet, mache etwas falsch, ist fatal: Diese Vorstellung muss raus aus den Köpfen.
Das Arbeitsverhältnis besteht auch in Zeiten der Kurzarbeit rechtlich weiter. Das heißt, dass auch die betriebliche Altersversorgung grundsätzlich fortbesteht. Aber keine Frage, die wirtschaftliche Krise ist eine schwere Belastungsprobe für unseren Sozialstaat. Deshalb muss die Politik alles daransetzen, Wachstumsperspektiven für die Zeit nach Corona aufzuzeigen und Gesellschaft und Wirtschaft erfolgreich aus der Krise führen.
Im Jahr 1988 schloss Prof. Siegfried Russwurm sein Studium der Fertigungstechnik an der Universität Erlangen-Nürnberg als Diplom-Ingenieur ab. Dort promovierte er am Lehrstuhl für Technische Mechanik mit einer Arbeit zu numerischen Simulationsverfahren.
1992 trat er in die Siemens AG ein, zunächst als Produktionsplaner und Projektleiter im Bereich Medizinische Technik, später in diversen Führungsfunktionen im Medizin- und Industriegeschäft in Deutschland und in Schweden.
Im Jahr 2006 wurde er Bereichsvorstand in der Medizintechnik, im Januar 2008 Mitglied des Vorstands der Siemens AG, in dem er bis März 2017 tätig war. In dieser Zeit war er verantwortlich für alle Industriethemen, als Chief Technology Officer für Technik, für Healthcare und für Personal. Zu seinen Regionalzuständigkeiten im Siemenskonzern gehörten unter anderem Europa, Afrika und der Mittlere Osten.
Russwurm ist in verschiedenen Aufsichtsräten und Beiräten aktiv. Unter anderem ist er seit März 2019 Vorsitzender des Gesellschafterausschusses und des Aufsichtsrats der Voith GmbH & Co. KGaA und wurde im Oktober 2019 zum Vorsitzenden des Aufsichtsrats der Thyssenkrupp AG gewählt.
Russwurm war von 2015 bis 2017 Vorsitzender der Nordafrika-Mittelost-Initiative der deutschen Wirtschaft (NMI) unter dem Dach des BDI, von 2014 bis 2017 Vorsitzender der Plattform Industrie 4.0 einiger BDI-Mitgliedsverbände sowie von 2011 bis 2017 engerer Vorstand des BDI-Mitgliedsverbands der Maschinen und Anlagenbauer, VDMA.
Als Personalvorstand und Arbeitsdirektor der Siemens AG gehörte er zudem von 2008 bis 2010 dem Präsidium der Bundesvereinigung der Deutschen Arbeitgeberverbände (BDA) an.
Russwurm wirkt im Präsidium der Deutschen Akademie der Technikwissenschaften (acatech) und im Vorstand der Deutsch-Schwedischen Handelskammer mit. Seit 2009 hält er als Honorarprofessor Vorlesungen in Mechatronik an der Universität Erlangen-Nürnberg.
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